Guy Delisle
Lost in Translation

Ausstellungsdauer: 22. bis 25. Mai
Öffnungszeiten: Do 12–19, Fr/Sa 10–19, So 10–18 Uhr
Kongresszentrum Heinrich-Lades-Halle

Vielleicht ist die Welt ja doch von Franz Kafka geschaffen worden. Auf diese Idee kann man kommen, wenn man die Comics von Guy Delisle betrachtet. Das beginnt keineswegs bei den Erlebnissen des karikierten Autoren-Ichs in den hermetischen Stadtlandschaften von Shenzhen oder Pjöngjang. Die Erfahrung macht genauso der kleine Louis beim Skifahren. Bereits im ersten Panel entfällt ihm sein Spielzeug. Er wird seiner Umgebung entfremdet und in die Berge transportiert. Immer wieder nimmt der Zeichner die Perspektive Gottes ein, schaut aus großer Höhe auf das krauchende Geschehen. Am Hang zieht Louis sinnleere und ziellose Spuren. Und dann steht er ganz oben, zittert vor dem Abgrund, muss sich hinabstürzen in das Abenteuer, dessen Ausgang ungewiss ist. Fröhlicher Wintersport sieht anders aus.
Die Geschichte „Louis fährt Ski“ hat Guy Delisle für die französische Reihe „Shampooning“ gezeichnet, die Lewis Trondheim herausgibt. Trondheim ist der Philosoph einer Absurdität, die durch Heiterkeit zu mildern ist. Als Künstler passt Guy Delisle genau in diesen Rahmen. Er wurde 1966 in Québec, Kanada, geboren. In Toronto hat er Kunst studiert und danach für verschiedene Zeichentrickstudios in Kanada, Deutschland, Spanien und Frankreich gearbeitet. Seit 1991 lebt er in Montpellier.
In seinen Meisterwerken „Shenzhen“ und „Pjöngjang“ hat Delisle nicht nur xenophobische Geschichten erzählt. Er hat seinen Lesern zugleich die Augen geöffnet für den Zustand der Industrie des Zeichentricks als einer Unterabteilung der sogenannten Neunten Kunst. Um den globalen Augenhunger nach Animation zu stillen, ist die Produktion in Billiglohnländer ausgelagert worden, wo unter unmenschlichen Bedingungen und ohne jeden Sinn für Zusammenhänge gearbeitet wird. Die beiden Bücher sind auch Industrie-Reportagen, und manche Bilder Delisles stellen geradezu Hommagen an diese Gattung dar, die ja vor allem eine fotografische war. So wenn er Gebäude oder technische Anlagen in einem wuchtigen Realismus wiedergibt, der im Kontrast zur sonstigen Skizzenhaftigkeit der Erzählungen steht.
Skizzenbücher – Tagebücher: so gerieren sich Guy Delisles Berichte aus der chinesischen Retortenmetropole Shenzhen und aus Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang. An beiden Orten arbeitet sein zeichenhaft vereinfachtes Autoren-Ich als Supervisor im Bereich total (um nicht zu sagen: totalitär) unkreativer Massenproduktion von Zeichentrick. Delisle fängt fremde Umgebungen, rätselhafte Rituale, kommunikative Verlorenheit als bleierne Erfahrungen mit dem Bleistift ein. In „Shenzhen“ tritt ihm die exotische Umgebung noch sehr voluminös in großen Grauflächen entgegen. In „Pjöngjang“ löst sie sich teilweise auf in einen Horror Vacui, eine Erfahrung schrecklicher Leere, wie sie sich in dem abgeschotteten Land wohl ausgebreitet hat. Und wenn die Ich-Figur in „Shenzhen“ noch als eine erscheint, die der neuen Umgebung selbst zu wenig Neugier und Offenheit entgegenbringt, so wirkt sie in „Pjöngjang“ in absolute Hilflosigkeit gebannt, weil sie die Wirklichkeit lediglich als groteske Kulisse erlebt. Als hätte Franz Kafka die Welt erschaffen ...
Herbert Heinzelmann

Kongresszentrum Heinrich-Lades-Halle Erlangen, Großer Saal, Empore – 22. bis 25. Mai

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